Die Frage nach den Generationen ist heute hochaktuell! Soziologen fragen sich, wie man sich von den Glaubenssätzen und Konditionierungen in der eigenen Familie befreien kann. Psychologen wollen den Teufelskreis der Traumatisierungen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden, durchbrechen. Andere wiederum fragen sich, warum Familientraditionen so wichtig sind und eine so wichtige Rolle für die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden einer Familie haben.
Ein elementares biblisches Konzept
Ich erinnere mich, wie ich als junger Christ immer wieder älteren Gastsprechern zuhörte, die davon sprachen, uns als junge Generation einen „Mantel der Salbung“ überzulegen oder eine „Fackel“ weiterreichen zu wollen. Offensichtlich glaubten sie, ein geistliches Erbe könne auf eine kommende Generation übertragen werden. Ich fühlte mich zuerst vereinnahmt und war der Überzeugung, dass ich meinen eignen Weg finden müsste. Erst später verstand ich, dass es sich um ein elementares biblisches Konzept handelte, durch das von „Generation zu Generation“, auf Hebräisch „dor v'dor“, Verheißungen weitergetragen werden. Wie hätte ich ohne das geistliche Erbe derer, die uns den Weg gebahnt haben und vorausgegangen sind, das Reich Gottes bauen können? Und wie hätte ich ein Netzwerk von Gemeinden, soziale Werke und eine geistliche Bewegung ohne das Vorbild unserer Glaubensväter und -mütter ins Leben rufen können?
Die Unterschiede der Generationen
Die Frage der Generationen ist ein faszinierendes Thema, dass die Menschen schon so lange beschäftigt, wie es sie gibt. Seitdem Gott den Menschen geschaffen hat, gibt es Kinder, Enkel und Urenkel, die wiederum zu Eltern, Großeltern und Urgroßeltern geworden sind. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Generationen, ihre Prägungen und Beziehungen zueinander, sind in dieser Zeit das Thema der Generationenforschung. Auf die spannende Frage, wie ein geistliches Erbe von Generation zu Generation weitergetragen werden kann, finden wir eine Antwort in der Bibel.
Eine jüdische Redewendung
„Dor v'dor“ (דּוֹר וָדוֹר) ist eine gängige Redewendung in der jüdischen Tradition und bedeutet auf Hebräisch von „Generation zu Generation“. Das hebräische Wort דּוֹר dôr beschreibt „eine Generation“ als die Lebensphase eines Menschen, der einen längeren, abgegrenzten Zeitraum durchlebt, in dem der nachfolgenden Generation das Erbe weitergegeben wird. Deswegen betet David Gottes Gnade und Treue an, die sich über Generationen erstreckt. So lesen wir z.B. in Ps 100,5: „Ewig währt seine Gnade und seine Treue von Generation zu Generation!“ Jeder soll den Gott der Gnade kennen. Darum will David nicht aufhören, den Namen Gottes auszurufen und sagt: „Ich will deinen Namen verkündigen von Generation zu Generation“ (Ps 45,18). Gottes Verheißungen sind unveränderlich und ewig. Sie gelten von Generation zu Generation. Dieser Gedanke ist im Neuen Testament ebenso vertraut. Gott ist der Vater des Lichts, „bei dem keine Veränderung ist, noch Wechsel von Licht und Finsternis“, so lesen wir es im Jakobusbrief (Jak 1,17). Während sich die Welt um uns rasend schnell verändert, bleibt Gottes Wort unveränderlich von Generation zu Generation.
Eines der wichtigsten Gebete des Judentums, genannt das „Schma Israel“, betont, wie wichtig es ist, jüdische Traditionen an Kinder weiterzugeben und sagt: „und du sollst diese Worte deinen Kindern einprägen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt“ (Dtn 6,7). Ist es nicht erstaunlich, dass es Juden in der Diaspora trotz unterschiedlicher Kulturen und Lebensweisen gelungen ist, ihr jüdisches Erbe über tausenden Jahren von Generation zu Generation bis in die heutige Zeit hineinzutragen? Ein Israeli weiß bis heute um die besondere Bedeutung seiner Abstammung. Ob er Nachfahre von Holocaustüberlebenden ist, oder als „Cohen“ auf seine priesterliche Abstammung verweisen kann, lebt er in dem Bewusstsein, dass sein Erbe von „Generation zu Generation“ weitergetragen worden ist.
Die Botschaft der Stammbäume
Wer die Bibel liest, kennt die Passagen in der Heiligen Schrift, in denen Stammbäume ausführlich aufgelistet werden. Die Stammbäume der Bibel erstrecken sich von Adam und Eva bis hin zu Jesus. Matthäus und Lukas beginnen in den Evangelien mit dem Stammbaum Jesu und verweisen darauf, dass er aus dem Hause David stammt (Mt 1,1; Lk 3,31). Paulus legte Wert darauf, zu sagen, dass er aus dem Stamm Benjamin (Phil 3,5) kam. Ich konnte anfangs den Stammbäumen in der Bibel nicht viel abgewinnen. Die Auflistung der Namen und Stämme ließen mich immer wieder ermüden und schienen für mich ohne Aussagekraft zu sein. Erst später wurde mir bewusst, warum ihnen in der Bibel eine so zentrale Rolle zugeteilt wird. Die Stammbäume der Vorfahren gaben dem Volk Israel Sicherheit und Identität. Wer wusste, woher er kam und auf wen seine Herkunft zurückgeführt werden konnte, durfte nach dem Gesetz Israels legitimer Teilhaber am Erbe seiner Väter sein.
Das Erbe der Väter
Was aber war das „Erbe der Väter“ und warum war es so wichtig, dass es weitergegeben werden sollte? Nach unserem Verständnis wird ein Vermögen, dass nach dem Tod eines Menschen auf einen anderen übergeht als ein Erbe bezeichnet. Das biblische Verständnis ist wesentlich umfassender.
Im Alten Testament ist das hebräische Wort für Erbe נַחֲלָה (nachalah), was so viel bedeutet wie geerbter Besitz oder Eigentum.1 Im wörtlichen Sinne bezeichnet das Erbe in der Bibel die Weitergabe von Eigentum, Reichtum oder Land von einer Generation an die nächste. Der Begriff Erbe wird ebenso bildlich verwendet, um Gottes Verheißungen und Segnungen darzustellen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die nachfolgenden Generationen leiden unter der sündhaften Erbfolge ihrer Vorfahren (Ex 20,5; Num 14,18; Jer 44,3.9, Rö 5, 17.18) bis sie durch die Erlösung Jesu Freiheit und Versöhnung empfangen haben (Mal 3,24; Rö 5,19).
Im Neuen Testament dehnt sich der Begriff „Erbe“ auf das ewige Leben aus, das denen verheißen ist, die ihm nachfolgen (Eph 1,11).
Im theologischen Verständnis betont das Erbe den Bund Gottes und seine Treue bei der Erfüllung seiner Verheißungen (Gen 17,7). So wie irdische Erben ihr Erbe von ihren Eltern erhalten, sind Nachfolger Jesu Erben Gottes und Miterben Christi (Rö 8,17), die an der Fülle des geistlichen Segens in der himmlischen Welt durch Christus Anteil bekommen haben (Eph 1,3).
Zusammenfassend ist das geistliche Erbe ein kraftvolles biblisches Konzept, dass die Identität und Bestimmung der Gläubigen widerspiegeln, die in die Bundesbeziehung des Gottes Israels mit seinem Volk verwurzelt sind und durch Jesus Christus die geistlichen Segnungen des Bundes in der Kraft des Heiligen Geistes von Generation zu Generation weiterreichen.
Ein rabbinisches Gleichnis
Warum ist die Botschaft der Generationen in einer Zeit der entleerten Kirchen und säkularisierten Gesellschaft so bedeutend?
David Bollag ist Rabbiner. Er lehrt über den Wochenabschnitt zur Tora über 5. Moses 32,7 und erzählt dazu eine Geschichte. Es handelte sich dabei um zwei jüdische Familien, die den Koffer ihrer Tradition von Generation zu Generation weiterreichten. Eines Tages brach eine Welle von Verfolgung aus und zwang alle Juden, die Flucht zu ergreifen. Rabbiner Bollag lehrt:
“Zwei junge Männer, die zusammen in der Stadt aufgewachsen und miteinander befreundet waren, konnten gemeinsam fliehen. Beiden gelang es, beim schnellen Verlassen ihres Elternhauses bereitstehende Koffer zu ergreifen und auf den Weg mitzunehmen. Nachdem sich die beiden Freunde nach mehrtägiger gefahrvoller Flucht in Sicherheit bringen konnten, fanden sie eine Unterkunft, in der sie sich vorübergehend aufhalten konnten. Als sie dort ihre Koffer öffneten, musste der eine der beiden Freunde zu seinem großen Erstaunen und Entsetzen feststellen, dass sein Koffer leer war. Doch der andere fand in seinem Koffer alles für ihn Notwendige vor. Alles, was er für sein Überleben und Weiterleben brauchte, war in diesem Koffer vorhanden.
Die beide Freunde begannen sich sofort zu fragen, wie es geschehen konnte, dass der Koffer des einen leer, derjenige des anderen jedoch voll und mit den notwendigen Gütern versehen war. Beide stammten aus einigermaßen wohlhabenden Familien, die die gleichen Möglichkeiten hatten, ihre Koffer mit dem Notwendigen zu füllen. (...) In beiden Familien stand für den Fall einer plötzlichen Flucht immer ein Koffer bereit. Der Koffer wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Es war bekannt, wofür der Koffer vorgesehen war, und beide Familien bewahrten ihren Koffer sorgfältig, sogar mit etwas Respekt auf. Doch es bestand ein großer Unterschied zwischen den beiden Familien: In der einen blieb der Koffer immer geschlossen, in der anderen wurde er immer wieder geöffnet.
Die Familie, die den Koffer nie öffnete, war der Ansicht, dass Familientraditionen nicht zu hinterfragen seien; dass es genug sei, den Koffer bereitzuhalten, und man sich darauf verlassen könne, dass der tradierte Inhalt des Koffers das Richtige und Notwendige beinhalte. Die Familie war sich aber nicht dessen bewusst, dass sich der Inhalt des Koffers im Laufe der Jahre und Generationen langsam zersetzte. Er bekam Risse, fiel auseinander, zerbröckelte immer mehr und löste sich zum Schluss ganz auf. So kam es, dass der Koffer zwar von Generation zu Generation voller Respekt aufbewahrt und weitergegeben wurde, sich im entscheidenden Moment aber herausstellte, dass er ohne Inhalt und damit zwecklos geworden war.
Die andere Familie hingegen öffnete ihren Koffer regelmäßig, um den Inhalt zu betrachten. Sie wollte wissen, woraus er bestand, wie und in welchen Situationen er anzuwenden sei, und wollte sich auch vergewissern, dass er immer in gutem Zustand blieb. Sie kannte den Inhalt des Koffers daher sehr genau, setzte sich ausführlich mit seinen Funktionen auseinander und überlieferte ihre Kenntnisse von Generation zu Generation. Zwar zeigten sich auch hier manchmal Risse oder Beulen. Sie wurden aber sofort behandelt und konnten deshalb leicht wieder in Ordnung gebracht werden. Aus diesen Gründen blieb der Koffer dieser Familie voll, enthielt das für den jungen Mann unterwegs Notwendige und half ihm, seinen Lebensweg trotz der schwierigen Umstände zu finden.”2
Rabbi Bollag schließt die Geschichte mit einer Mahnung: „Was wir daraus lernen: Betrachtet die Koffer der Generationen!“ Und er meint: Wer bereit ist, sich das reiche Erbe der Generationen anzuschauen, wird die Verheißungen Gottes ergreifen und in Krisenzeiten weitergeben können!