Was das Tübinger Stadtfest und die Berliner Humboldt-Universität gemeinsam haben
Der Fall an der Berliner Humboldt-Universität hat bundesweit Wellen geschlagen. Eine Handvoll linker Aktivisten hat dort gegen eine Wissenschaftlerin agitiert, die darüber referieren wollte, dass es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt. Die Plakate und Poster der Aktivisten waren deutlich: „Kein Platz für Transfeindlichkeit!“ „Verpisst euch!“ „Keine Bühne für Transphobie!“ Die Veranstaltung wurde vom Universitätspräsidenten wegen Sicherheitsbedenken abgesagt.1
Auch in der Universitätsstadt Tübingen kennt die Erregung queerer Demonstranten keine Grenzen. Die Freikirchengemeinde TOS hatte einen Stand auf dem Stadtfest. Die Gemeinde verkaufte Pulled Pork und veranstaltete am Freitag und Samstag Programmpunkte mit christlicher Musik, Tänzen und persönlichen Berichten über Gott. Eine Demonstration der Christopher Street Day Bewegung, CSD Tübingen, vor dem Stand der TOS war von der Stadt an beiden Tagen des Festes genehmigt worden. Ihre Plakate sprechen eine eindeutige Sprache: „Keine Bühne für die homophobe TOS“; „Fuck You“ und „TOS raus aus Tübingen“.2 Zwischendurch wird skandiert: „Kauft nicht bei der TOS“. Handzettel warnen vor einer „gefährlichen und destruktiven Gruppierung“.
Eigentlich sollte auf dem Tübinger Stadtfest ein friedliches Miteinander gefeiert werden. Mehr als 30.000 Besucher drängten sich nach Schätzungen der Stadtverwaltung auf dem Stadtfest. Der lokale Radiosender „Wüste Welle“ hatte jedoch vorher vor der Teilnahme der Freikirche TOS gewarnt. Der Programmacher des Wohnprojekts „Münzgasse 13“ verbreitete über den Äther seine Botschaft: Die Freikirche TOS „verdiene es nicht“, bei dem Stadtfest dabei zu sein.3 Und: Ausschreitungen seien zu erwarten. Unverständlich, dass vom Ordnungsamt parallel zum Stadtfest als eine Art Dauerabonnement an jedem Tag für vier Stunden eine Demonstration der CSD genehmigt wurde, die ihren Schlusspunkt zum Zeitpunkt des Programms am Stand der Freikirche TOS haben sollte.
Die Demonstrierenden kritisierten die Stadtverwaltung, dass die TOS mit einem Stand und Programm auf dem Stadtfest vertreten war. Die Stadt Tübingen äußerte sich dazu folgendermaßen: „Die Stadtverwaltung vertritt die Position, dass eine demokratische Stadtgesellschaft auch abweichende Meinungen aushalten muss. Solange sich die Anbieter von Programmpunkten auf dem Stadtfest an Recht und Gesetz halten und nicht gegen die Verfassung verstoßen, sehen wir keinen Grund und auch keine gesetzliche Grundlage, ihnen die Mitwirkung an einer städtischen Veranstaltung zu untersagen.“4 Was ist eigentlich, wenn sich linke Aktivisten und queere Demonstrierende sich nicht an Recht und Gesetz halten?
Es stimmt: Die meisten Demonstrierende hielten friedlich ihre Gesinnungsbanner hoch und verteilten Handzettel, deren Inhalt den Tatbestand der „üblen Nachrede“ leicht erfüllen würde. Wenn aber einzelne Aktivisten skandieren „Kauft nicht bei der TOS“, Plakate wegreißen, Infomaterial stehlen und Besucher aktiv auffordern, den Verkaufsstand zu verlassen, geht es nicht mehr um die unterschiedlichen Positionen einer demokratischen Stadtgesellschaft, sondern schlicht und einfach um ein Gesinnungsdiktat und „Cancel Culture“ beim Tübinger Stadtfest.
Schenkt man den Aktivisten Gehör, wie das einige interessierte Gemeindeglieder getan haben, erfährt man, wie unerbittlich diese Leute ihre Agenda durchsetzen und Andersdenkende ausgrenzen wollen. Zum Gespräch muss man allerdings die Richtigen finden, da durch einen offensichtlich von oben verordneter Maulkorb bei den meisten Demonstranten keine Gesprächsbereitschaft zu finden war.
In den USA nennt man das Phänomen „Cancel Culture“, dort vergiftet es die gesellschaftlichen Debatten und befeuert den Kulturkampf zwischen Linken und Rechten: Bestimmte Positionen werden als diskriminierend gebrandmarkt, weshalb man versucht, ihre Vertreter zu diskreditieren und sozial auszugrenzen.5
Darum ging es leider auch bei dem vom Stadtfest live gesendeten Beitrag des Lokalsenders „Wüste Welle“: die Freikirchengemeinde TOS als queer-feindlich und homophob zu stigmatisieren und als menschenverachtende Sekte zu diskreditieren.
Schaut man genauer hin, geht es eigentlich um die Unfähigkeit, einander zuzuhören und andere Sichtweisen zu tolerieren. Das ursprüngliche wichtige Anliegen, Rassismus und Diskriminierung in der Sprache zu unterbinden, ist in einen absurden Zensurwahn ausgeartet. Paradox ist dabei: Einerseits fordern die Aktivisten die Anerkennung von großer Diversität in Lebensstilen, Weltanschauungen und sexuellen Orientierungen ein, andererseits grenzen sie andere Haltungen als ihre eigenen kategorisch aus.6 So wird der Hörsaal in Berlin zu dem Ort des linken Gesinnungsterrors einer Minderheit und das friedliche Stadtfest Tübingen zum Schauplatz eines von der Stadt offenbar sanktionierten, öffentlich von dem CSD und anderen Gruppierungen vorgeführten Gesinnungsdiktats. Diese Entwicklung ist besorgniserregend.
Wer anders denkt, muss anscheinend mit Schlimmerem als mit Beschimpfungen rechnen. Das ist ein Armutszeugnis. Wenn wir beginnen, den Mund zu verbieten, auszugrenzen und das Bleibe-Recht abzusprechen, statt respektvoll bei kontroversen Ansichten und Weltanschauungen miteinander umzugehen, haben wir den demokratischen Grundkonsens der Meinungs- und Religionsfreiheit längst verlassen. Wer andere – und dazu gehören explizit auch bibelgläubige Freikirchen – dämonisiert, delegitimiert und ihnen ihr Existenzrecht abspricht, darf sich über einen staunenden Vergleich mit der Geisteshaltung einer hoffentlich längst überwundenen Zeit nicht wundern.
Quellen:
1 Vgl. Phillip Eppelsheim, Der Gesinnungsterror linker Aktivisten. Cancel Culture an der Uni, Artikel vom 03.07.2022, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), online verfügbar: https://www.faz.net/-gpg-asyf1 (zuletzt aufgerufen am: 13.07.2022).
2 SWR, Volle Altstadtgassen beim Tübinger Stadtfest, Artikel vom: 10.07. 2022, online verfügbar: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/tuebingen/stadtfest-tuebingen-2022-100.html (zuletzt aufgerufen: 13.07.2022).
3 Wüste Welle Mediathek, Ankündigungen zum Tübinger Stadtfest am 05.07.2022, online verfügbar: https://www.wueste-welle.de/mediathek/playsendung/id/62002 (zuletzt aufgerufen: 12.07.2022).
Siehe auch: Wüste Welle, Stadtfestradio live vom 08. Juli 2022 (21.00 Uhr), online verfügbar: https://www.wueste-welle.de/mediathek/viewsendung/id/62078 (zuletzt aufgerufen: 13.07.2022).
4 SWR, Volle Altstadtgassen beim Tübinger Stadtfest.
5 Vgl. Florian Harms, Zensur made in Germany, in: T-online, Artikel vom 07.07.2022, online verfügbar: https://www.t-online.de/nachrichten/id_92351732/zensur-made-in-germany-was-darf-man-eigentlich-noch-sagen-.html (zuletzt aufgerufen am: 13.07.2022).
6 Ebd.