Israel erlebt gerade die stärkste Regierungskrise seit seiner Gründung. Benjamin Netanjahu und der ehemalige Armeechef Benny Gantz stehen für zwei Parteiblöcke, die eigentlich nicht so sehr voneinander entfernt zu sein scheinen. Trotzdem ist jede Annäherung bisher gescheitert.
Es ist erstaunlich, wie Israel in dem Jahr der Regierungskrise beinahe unbeeinträchtigt eine Normalität aufrechterhalten konnte. Es heißt zu Recht: Je stärker eine Demokratie ist, desto mehr hält sie Auseinandersetzungen und unterschiedliche Strömungen aus. Ein israelischer Rechtsanwalt sagte vor kurzem augenzwinkernd zu mir: „Wir scheinen ganz gut auch ohne Regierung zu funktionieren. Vielleicht sollten wir besser darauf verzichten?“ Die israelische Regierungskrise dauert jetzt schon fast ein Jahr und scheint auf einen dritten Wahlgang hinzusteuern.
Politische Beobachter bemühen immer wieder antisemitische Stereotype und sprechen von einem Kampf des jüdischen Nationalismus unter Benjamin Netanjahu gegen einen liberalen Rechtstaat unter der Führung von Benny Gantz. Dabei ist es bis heute eines der herausragenden Kennzeichen Israels, dass es schon von den ersten Anfängen an in geradezu genialer Weise religiöse und liberale Strömungen zusammenbringen und vereinigen kann. Jede Demokratie lebt vom Wechsel. Wie gut das trotz Krisen und äußerer Angriffe funktionieren kann, hat uns Israel eindrücklich vorgemacht.
Während meiner letzten Israelreise ließ ich die vergangenen zwanzig Jahre Revue passieren. Ich erinnerte mich, wie meine Frau Charlotte und ich auf der Terrasse vom King David Hotel Benjamin Netanjahu trafen, noch bevor er Premierminister wurde. Kurz danach wurde er als Staatschef über eine lange Zeit ein Garant für Sicherheit, wirtschaftliches Wachstum und den Aufbau internationaler Beziehungen. Er kennt die Bedeutung evangelikaler Christen und heißt sie mit ihrer Arbeit, wie er es formuliert, als „die besten Freunde Israels“ willkommen. Christen beten weltweit für ihn. Ich bin davon überzeugt, dass Benjamin Netanjahu ein Segen für Israel war und hoffentlich auch in zukünftiger Zeit sein wird.
Gleichzeitig frage ich mich: Ist eine Stafettenübergabe in einer Demokratie nicht ein völlig normaler Vorgang, den wir betend und segnend bejahen sollten? Wäre nach mehr als 20jähriger politischer Tätigkeit und 13 erfolgreichen Jahren als Premierminister ein politischer Wechsel in irgendeiner Weise verwerflich? Könnte ein Nachfolger, der moralische Werte zu einem wichtigen Wahlkampfthema gemacht hat, nicht ein Segen für das Land und damit auch für die Nationen sein?
Viele Christen haben Benjamin Netanjahu zu einem Gesandten Gottes gemacht, der Israel alleine Fortschritt, Sicherheit und Stabilität bringen kann. Das ist unbiblisch und falsch. Gottes Bund und Verheißungen sind an keinen Politiker gebunden, sondern gehören alleine Israel. Die vierhundert in jüngster Zeit aus dem Gazastreifen abgefeuerten Raketen haben im Verhältnis wenig Schaden angerichtet. Sie bezeugen einmal mehr: „Der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht“ (Ps 121,4). Menschen verhandeln und bilden Koalitionen, aber allein Gott setzt Regierungen ein und ab (Dan 2,21). Der „Iron Dome“ des Himmels ist die Wahrheit, denn „seine Wahrheit ist Schutz und Schirm“ (Ps 91,4b).
Wie können wir für Israel richtig beten? Millionen christliche Beter verbinden Gottes Verheißungen und Segen für Israel mit dem Namen Benjamin Netanjahus und beten für eine Fortsetzung seiner Regierung. Wie aber wäre es, wenn wir unsere Vorstellungen loslassen und im Gebet die Möglichkeit, dass Gott eine neue Regierung zum Segen des Landes einsetzen möchte, willkommen heißen und bejahen?
Wie gut wäre es, wenn Benjamin Netanjahu, jenseits aller politischen Auseinandersetzungen und Wahlkämpfe, die Möglichkeit hätte, von den Anschuldigungen entlastet zu werden, damit seine Erfolge in würdiger Weise geehrt und anerkannt werden können. Und wie traurig und wie wenig angemessen wäre es, wenn die beinahe einjährige Stagnation in der israelischen Regierung schließlich doch auf eigensüchtige und allzu menschliche Motive reduziert werden könnte.
Ich bin kein Politiker und will mir nicht anmaßen, Politik in Israel richtig bewerten zu können. Wie Millionen andere Christen sind wir wie „Wächter auf der Mauer“ (Jes 62,6) und beten für Israel und Jerusalem. Ich frage mich: Sind die Lähmung und Stagnation in Israel das Spiegelbild einer erstarrten Kirche, die ihren inneren Kompass und damit auch ihre Gebetsvollmacht verloren hat? Gott selbst hat sich festgelegt und sagt: „Ich werde vom Himmel her hören und ihr Land heilen – wenn ihr das richtige tut!" (2. Chronik 7,14). Israels gelähmte Regierung ist Gottes eindringlicher Ruf, uns vor ihm zu demütigen, sein Angesicht im Gebet zu suchen und von unseren eigensüchtigen und bösen Wegen umzukehren. Werden wir seinen Ruf hören?
Von Jobst Bittner